Petra (13)

Petra ist eine begabte und leistungsstarke Schülerin der 7. Klasse Realschule. Sie zeigt gute bis mittelmäßige Leistungen, beteiligt sich aktiv am Unterricht und ist gut in ihre Peer-Gruppe integriert. Ihre Hausaufgaben erledigt sie zuverlässig, ihre Konzentration ist gut. Mit ihren Eltern hat sie angemessenen Umgang, der von sicherer Bindung aber auch gelegentlichen Konflikten geprägt ist.  Im Umgang mit den betreuenden Lehrkräften tritt sie selbstsicher und fordernd, aber konstruktiv auf.

Bei einem Ferienaufenthalt, den sie gemeinsam mit ihrer Freundin in einem Zeltlager verbringt, kommt es zu sexueller Gewalt durch einen erwachsenen Mann, zunächst gegenüber Petra, später auch gegenüber ihrer Freundin. Beide wissen nichts von den sexuellen Gewalterlebnissen der jeweils anderen und offenbaren sich zunächst niemandem.

 

In den Wochen danach verändert sich Petra schleichend in ihrem Wesen und Verhalten. So vernachlässigt sie zunehmend ihre schulischen Aufgaben, beteiligt sich nicht mehr am Unterrichtsgeschehen und vergisst ihre Hausaufgaben. Sie erleidet einen Leistungsknick, der erst mit der Zeit durch ihre Noten sichtbar wird. Sie wirkt zunehmend verschlossener und zieht sich von Freundinnen zurück. Bei Konflikten braust Petra schnell auf und wirkt insgesamt sehr angespannt und leicht störbar. Immer mehr Lehrkräfte bemerken, dass Petra abwesend im Unterricht sitzt und bedrückt wirkt. Sobald sie auf ihre fehlenden Hausaufgaben und die negative Leistungsentwicklung angesprochen wird, reagiert Petra ungehalten-aggressiv oder lethargisch-resignativ.

 

 

 

 

 

 

 

Etwa ein halbes Jahr nach dem Vorfall bleibt sie immer häufiger dem Unterricht fern, aufgrund von unspezifischen Krankheitssymptomen. Sie nimmt Kontakt auf zur Schulpsychologin, berichtet dieser von dem sexuellen Übergriff im Ferienlager und verpflichtet sie zur Geheimhaltung.

 

Etwa zur gleichen Zeit offenbart sich Petra auch ihrer Mutter, es kommt zur Anzeige und juristischen Aufarbeitung.

 

Wenig später kommt Petra überhaupt nicht mehr zur Schule und wird in der Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt. Dort wird  Petra krankgeschrieben mit den Diagnosen „Schulangst“ und „Depression“. Sie bleibt für etwa sechs Wochen zu Hause und verpasst sehr viele Leistungsnachweise. Nach der Rückkehr in die Schule gelingt es in Zusammenarbeit zwischen Elternhaus, Schulpsychologin und behandelnder Kinder- und Jugendpsychiatrie, Petra wieder zum Schulbesuch zu bewegen. Die Benotung wird für weitere zwei Monate ausgesetzt.

 

Auf Seiten der Schulleitung und des Kollegiums ist inzwischen große Verunsicherung entstanden, da das Verhalten Petras als aufsässig und verweigernd gedeutet wird. Zudem besteht schulrechtlich die Frage, ob es möglich ist, Petra aufgrund der fehlenden Leistungsnachweise zu versetzen. Zusätzlich verunsichernd ist auch, dass die Eltern ihre Tochter vor disziplinarischen Konsequenzen zu schützen scheinen und sie häufig entschuldigen. Der Ton zwischen Elternhaus und Schule wird rauer.

 

 

 

In Abstimmung mit Petra und ihren Eltern wird entschieden, einen „runden Tisch“  unter Beteiligung der Eltern, der behandelnden Psychologin aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Schulpsychologin, der Schulleitung sowie der Klassenleitung zu organisieren. Ohne die genauen Hintergründe zu beleuchten, wird seitens der behandelnden Psychologin „objektiviert“ dargestellt, dass Petras Verhalten nicht als Verweigerung zu deuten ist und was sie an Unterstützung benötigt. Dies genügt für die Schulleitung, Petra größtmöglich entgegenzukommen. Die betreuenden Fachlehrer werden angewiesen, mit Petra konkrete Ziele zu vereinbaren und gemeinsam zu planen, wie sie weitere Leistungsnachweise erbringt.

 

 

 

In den verbleibenden Monaten bis zum Schuljahresende geht Petra wieder regelmäßig in die Schule und bewältigt den Schulalltag zunehmend besser. Ihre Fehlzeiten werden seltener, ihre Hausaufgaben erledigt sie regelmäßiger und die erbrachten Noten ermöglichen die Versetzung.

Parallel hierzu hat sie weiterhin regelmäßige Gespräche bei der Schulpsychologin, die ihr immer wieder ihre Vermittlung anbietet in der Auseinandersetzung mit ihren Lehrkräften. Die Bewältigung der traumatisierenden Erlebnisse nimmt sie mit Hilfe einer ambulanten Psychotherapie in Angriff, in die sie mit Hilfe der Kinder- und Jugendpsychiatrie vermittelt wird. In den Monaten danach stabilisiert sich Petras Zustand weiter, auch wenn die beobachteten Veränderungen im Wesen und in ihrem Verhalten nie mehr vollständig verschwinden. 

Dokumentation Lehrerin

(Datum) Petra ist eine leistungsstarke und fleißige Schülerin, die sich aktiv am Unterricht beteiligt. In ihrem Wesen ist Petra freundlich und zugewandt. Im Kontakt mit ihren Klassenkameraden fällt sie auf durch Hilfsbereitschaft und soziales Engagement. Petra ist eine beliebte Schülerin, die gut in die Klassengemeinschaft eingebunden ist.

 

 

 

 

 

  (Datum) Seit einigen Wochen wirkt Petra abwesend und berückt.

…erbringt Hausaufgaben nur noch teilweise.

beteiligt sich nicht mehr am Unterricht.

…wirkt fahrig und unkonzentriert.

…steht zwischen den Stunden und in den Pausen im Gegensatz zu früher nun alleine und hat kaum noch Kontakte zu ihren Klassenkameraden.

(Datum) Bei Konfrontation mit den nicht erbrachten Hausaufgaben erwiderte Petra unwirsch und aufbrausend, sie habe im Moment anderes zu tun.

 

Datum) Als ich Petra darauf anspreche, dass sie in den letzten Wochen verändert wirkt, blickt sie zu Boden, kann den Blickkontakt nicht herstellen und wiegelt ab, es sei alles in Ordnung, ich solle mir keine Sorgen machen.

(Datum) Im Gespräch mit Kollege XY  berichtet  dieser übereinstimmende Beobachtungen.

 (Datum) Beim mündlichen Ausfragen wirkt Petra völlig desorientiert, bekommt einen roten Kopf, kann den Stoff nicht wiedergeben und wirkt völlig blockiert.

(Datum) Petra fehlt häufig im Unterricht. Es gibt dafür fadenscheinige Entschuldigungen der Eltern. Ich entscheide mich, die Schulleitung einzubinden.

 

Dokumentation der Schulpsychologin:

(Datum) Schülerin offenbart in einem von ihr initiierten Beratungsgespräch, vor einem halben Jahr Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein. Schülerin ist mir bisher unbekannt, wirkt glaubwürdig und berichtet in stimmigem emotionalen Ausdruck. Sie wirkt stark belastet und erzählt von ihren Schwierigkeiten, aufgrund des Vorfalles weiter zur Schule zu gehen.

Sie berichtet von starken Konzentrationsschwierigkeiten, von großer Wut und dem Gefühl, jederzeit „explodieren“ zu können. Sie könne kaum mehr schlafen, habe starke innere Unruhe und denke daran, sich das Leben zu nehmen.

Auf die Suizidalität angesprochen, kann sie sich glaubwürdig distanzieren, eine akute Suizidalität ist nach meiner Einschätzung auszuschließen.

Die Schülerin verpflichtet mich zur Schweigepflicht und erlaubt mir nicht, die Schulleitung oder andere Stellen einzuschalten.

Da die Schülerin zusagt, auch weiterhin zur Beratung zu kommen, entscheide ich mich zunächst dagegen, weitere Schritte einzuleiten und  informiere die Schulleitung nur ungenau über das Vorliegen schwerwiegender Probleme und darüber, dass an der Lösung gearbeitet wird.

(Datum) Die Schülerin berichtete erneut von den Folgen ihres Gewalterlebnisses. Sie ließ sich überzeugen, externe Hilfe in Anspruch zu nehmen. Gemeinsam nahmen wir telefonischen Kontakt zu Kinder- und Jugendpsychiatrische Ambulanz in XY auf und vereinbarten einen Termin.

(Datum) In einem Gespräch mit Petra, ihren Eltern und der behandelnden Psychologin aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie berichtet diese von den Ergebnissen der Diagnostik und vom Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung  sowie einer depressiven Reaktion.

Wir vereinbaren, dass Petra weiterhin zu Gesprächen in die KJP kommt bis sie in eine ambulante Psychotherapie vermittelt werden kann.

Ich sage zu, innerhalb der Schule die nötigen Informationen an die Schulleitung weiterzugeben und den bisherigen Hilfeverlauf darzustellen,  ohne auf das konkrete Ereignis einzugehen. Dies will Petra auf keinen Fall.

(Datum) Runder Tisch mit Schulleitung, Klassenleitung, Petras Eltern und der behandelnden Psychologin: Wir vereinbaren, dass Petras Benotung sukzessive wieder eingesetzt und mit den Fachlehrern  besprochen wird, wie Petra die für eine Versetzung nötigen Leistungsnachweise erbringen kann.

Ich vereinbare, Petra bei den Absprachen mit den einzelnen Lehrkräften zu unterstützen. Petra ist weiterhin in therapeutischer Behandlung, die Eltern sagen zu, Petra dabei zu unterstützen, wieder einen geregelten Tagesablauf einzuhalten und sie speziell bei den Hausaufgaben zu unterstützen.

 

(Datum) Nach längerer Pause wieder einmal ein Gespräch mit Petra. Sie berichtet zufrieden und mit Stolz von schulischen Erfolgen und dass sie glaubt, das Schuljahr zu schaffen. Auf ihre soziale Einbindung in der Klasse angesprochen, berichtet sie, dass sie wieder mehr soziale Kontakte habe, dass einige Freundschaften jedoch „eingeschlafen“ seien, weil diese Klassenkameradinnen sich „nicht als wirkliche Freunde“ erwiesen hätten. Wir vereinbaren, dass sich Petra bei Bedarf jederzeit bei mir meldet, dass wir  ein Kontrollgespräch am Ende des Schuljahres führen und dabei auch einen Gesprächstermin zu Beginn des nächsten Schuljahres vereinbaren werden.