Häufigkeit

Für Deutschland gibt es bisher wenige Studien die Aussagen über die Häufigkeit sexueller Gewalt unter Kindern und Jugendlichen an Schulen ermöglichen. Aufgrund verschiedener methodischer Ansätze führen die Untersuchungen zu unterschiedlichen Ergebnissen. An Berliner Schulen wurden z.B. über 3000 Schülerinnen und Schüler befragt (Baier & Pfeiffer, 2011). Von diesen gaben 7,6% an, sexuell belästigt mit Körperkontakt worden zu sein, 0,9% waren Opfer sexueller Gewalt. In einer Studie des Deutschen Jugendinstituts e.V. (DJI, 2011) gaben 16 % der befragte Schulleitungen, 17% der Lehrkräfte und 28% der Internatsleitungen an, in den letzten drei Jahren mindestens einen Verdachtsfall sexueller Gewalt unter Gleichaltrigen an ihrer Schule erfasst zu haben. Etwa zwei Drittel der Täter waren unter 14 Jahre alt. Auch die Opfer waren in den meisten Fällen Kinder.

Baier, D. & Pfeiffer, C. 2011. Jugendliche als Opfer und Täter von Gewalt in Berlin. Forschungsbericht Nr. 114. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e.V.

Deutsches Jugendinstitut e.V. (Hg.) 2011. Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen. Abschlussbericht des DJI-Projekts, München

Zur Forschungslage siehe auch:

- Allroggen, M.; Spröber, N.; Rau, Th.; Fegert, J.M. ( 2011) Sexuelle Gewalt unter Kindern und Jugendlichen – Ursachen und Folgen. Eine Expertise der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie. Universitätsklinikum Ulm. Das Projekt des Universitätsklinikums Ulm wird aus Mitteln des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen gefördert.

PDF der Präsentation von Allroggen et al.

- Allroggen, M. & Rau, Th. (2016) Sexuelle Gewalt unter Kindern und Jugendlichen - eine Herausforderung für Schulen. in: 50 Jahre Schulberatung in Bayern- Tagungsband zur Jubiläumsveranstaltung. Akademie für Lehrerfortbildung und Personalführung.

 

Fallbeispiel

Hier finden Sie ein Beispiel aus der schulischen Praxis, zum Thema sexuelle Gewalt durch Gleichaltrige.

 

  

Digitale Medien - Cybermobbing

Ein Handlungsbereich, der nicht vernachlässigt werden darf ist Sexuelle Gewalt unter Kindern und Jugendlichen mit digitalen Medien bzw. Cybermobbing. Z.B. hier finden Sie Informationen dazu

Digitale Medien / Pubertät

Polizei für Dich - Cybermobbing

Digitale Medien (Selfies und Sexting; Challenges und Hashtags, ...).

Ansprechpartner bei Mobbing unter Kindern und Jugendlichen finden Sie bei den Staatlichen Schulberatungsstellen. An jeder dieser neun Beratungsstellen in Bayern gibt es Beratungsfachkräfte, mit einer speziellen Ausbildung als Mobbing-Berater. Staatliche Schulberatungsstellen / Bayern: http://www.schulberatung.bayern.de/schulberatung/index.asp

 

Fallbeispiel

Hier finden Sie ein Beispiel aus der schulischen Praxis, zum Thema Cyber-Mobbing im Klassenverband.

 

Interventionsplan

Hier finden Sie einen Interventionsplan, zum Vorgehen bei Verdacht auf sexuelle Gewalt unter Kindern und Jugendlichen in der Schule. Er zeigt, wie das idealtypische Vorgehen aussehen kann, wenn eine Lehrkraft den Verdacht hat, dass eine Schülerin / ein Schüler sexueller Gewalt von Gleichaltrigen ausgesetzt ist.

(Erläuterung der benutzten Abkürzungen: ASD= Allgemeiner sozialer Dienst / JA = Jugendamt)

 

Interventionaplan peers neu

 

Bitte beachten Sie bei der Umsetzung des Interventionsplans diese Regeln:

- Krisenintervention ist nicht Aufgabe der ins Vertrauen gezogenen Lehrkraft!

- Der zuständige Schulpsychologe sollte immer beinbezogen werden!

 

Definition

In der Regel spricht man bei Heranwachsenden bei entsprechenden Ereignissen erst dann von sexueller Gewalt, wenn der Altersunterschied zwischen Täter und Opfer mindestens fünf Jahre beträgt. Die Handlungsarten lassen sich auf einem Kontinuum von leichten bis zu schweren Formen folgendermaßen anordnen: sexuell belästigendes Verhalten, sexuelles Problemverhalten, sexuell delinquentes Verhalten, sexueller Kindesmissbrauch und sexuell aggressives Verhalten. In Beziehungen unter Jugendlichen gibt es häufig Überschneidungen bei der Ausübung von körperlicher, verbaler und sexueller Gewalt. Fließend sind auch die Übergänge zwischen einvernehmlichen sexuellen Handlungen und solchen, die unter psychologischem oder körperlichem Zwang erfolgen. Oft ist es darüber hinaus auch nicht möglich, sexualisierte Formen allgemein aggressiven Verhaltens unter Heranwachsenden und primär sexuell motivierte Gewalt voneinander abzugrenzen. Im Folgenden werden alle bisher genannten Handlungsarten unter dem Terminus sexuelle Gewalt subsumiert, da in den entsprechenden Studien die erfassten Vorfälle i.d.R. nicht nach den verschiedenen Handlungsarten ausdifferenziert werden. In den Untersuchungen wird fast immer auch nicht danach unterschieden, ob entsprechende Handlungen zwischen gleich- oder gegengeschlechtlichen Partner stattgefunden haben. Dies ist problematisch, weil sexualisiertes bzw. sexuell belästigendes Verhalten bei gegengeschlechtlichen Jugendlichen oft die Intention hat, Kontakt herzustellen, bei gleichgeschlechtlichen Heranwachsenden jedoch eher durch Aggression motiviert ist.

 

Entstehungsbedingungen und Folgen

 

Hinsichtlich sexueller Gewalt unter Heranwachsenden werden folgende Entstehungsbedingungen unterschieden: selbst Opfer sexueller Gewalt (gewesen) zu sein, sexualisierte Familienatmosphäre und wiederholter Kontakt zu sexuellen medialen Inhalten. Aufgrund von Konditionierungs- und Verstärkermechanismen, Modelllernen sowie sozialem Lernen, kann sich bei Kindern und Jugendlichen unter den genannten Bedingungen selbst sexuell gewalttätiges Verhalten entwickeln. Besonders vulnerabel sind Kinder zwischen dem dritten und siebten Lebensjahr. Waren sie in diesem Alter Opfer sexueller Gewalt, findet sich bei ihnen häufig gesteigerte gedankliche Beschäftigung mit sexuellen Inhalten und bzw. oder sie fallen durch sexualisiertes Verhalten auf. Jugendliche Missbrauchsopfer zeigen häufig depressive Symptome. Wenn Kinder vor der Adoleszenz sexuelle Kontakte mit Peers praktizieren, geht dies oft einher mit Depression, Gewalt, Substanzmissbrauch, schulischen Leistungsproblemen und geringer Qualität der Beziehungen. Follow-Up-Studien zeigen: Wenn Jugendliche sexuell gewalttätig sind, zeigen sie meist nach fünf Jahren dieses Verhalten nicht mehr (Caldwell, M., Study characteristics and recidivism base rates in juvenile sex offender recidivism. International Journal of Offender Therapy and Comparative Criminology. 2010; 54: 197-212).

 

Als stärkster Prädiktor dafür, dass Heranwachsende sexuelle Gewalt ausüben, gilt zwar, dass sie selbst Gewalt ausgesetzt waren, allerdings wird nicht jedes ehemalige Opfer selbst zum Täter. Einfache Kausalitätsketten gibt es nicht (Hummel, P. et al., Male adolescent sex offenders against children: similarities and differences between those offenders with and those without a history of sexual abuse. Journal of Adolescence 2000; 23: 305-317). Mehrfach belegt werden konnte, dass die meisten Opfer nicht selbst zum Täter werden (siehe z.B. Grabell, AS & Knight, RA, Examining Childhood Abuse Patterns and Sensitive Periods in Juvenile Sexual Offenders. Sexual Abuse: A Journal of Research and Treatment. 2009; 21 (2): 208-222). Sexuell missbraucht worden zu sein, ist weder eine notwendige noch hinreichende Bedingung dafür, selbst sexuelle Gewalt auszuüben. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Opfer selbst sexuell gewalttätig werden, nimmt zu, wenn sie gleichzeitig körperlicher Misshandlung und Vernachlässigung ausgesetzt waren oder sind (siehe z.B. Felson, RB & Lane, KJ, Social learning, sexual and physical abuse, and adult crime. Aggressive Behavior, 2009; 35: 489-501).

 

Täterkreis und Prävalenz

 

Wetzels (Wetzels, P. Zur Epidemiologie physischer und sexueller Gewalterfahrungen in der Kindheit. Ergebnisse einer repräsentativen retrospektiven Prävalenzstudie für die BRD. Forschungsbericht Nr. 59 des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen, Hannover. 1997) stellte fest, dass 41,9% der jugendlichen Täter Bekannte der kindlichen bzw. jugendlichen Opfer sind, 27,1% Familienangehörige und 25,7% Unbekannte.

 

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) führte 2010 eine repräsentative Wiederholungsbefragung von 2 810 14-17jährigen und ihren Eltern durch. Zu sexuellen Aktivitäten gezwungen worden zu sein, gaben 13 % der Mädchen und 1% der Jungen an. Die genannten Täter waren überwiegend Partner, Ex-Partner, Bekannte oder Mitschüler. Vom Vorgefallenen berichteten 62% der  weiblichen Opfer im Freundeskreis und 21% den Eltern. Niemandem anvertraut haben sich 25% der Mädchen. Bei Heranwachsenden mit Migrationshintergrund wurden in dieser Studie etwas höhere Prävalenzzahlen dokumentiert als in der Gesamtstichprobe.

 

In zwei Studien von Krahé (Krahé, B., Sexuelle Aggression und Opfererfahrung unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Prävalenz und Prädiktoren. Psychologische Rundschau. 2009; 60: 173-183) gaben 34,6 bis 28,9% der befragten weiblichen jungen Erwachsenen zwischen 18,1 und 19,8 Jahren an, Opfer mittelschwerer bis schwerer sexueller Gewalt durch Männer – häufig in Beziehungen - gewesen zu sein. 16 bis 18% der jungen Männer gaben an mittelschwere bzw. schwere sexuelle Aggression durch Frauen – häufig in Beziehungen – erlebt zu haben. Deutsche Studien zum Thema Sexuelle Gewalt in Beziehungen unter Jugendlichen, die jünger als 18 Jahre sind, gibt es bisher keine. In US-amerikanischen Studien wurde häufig nach Gewalterfahrungen bei abendlichen Dates im Auto gefragt („Date Rape"). Mit 16 Jahren können Jugendliche in den USA den Führerschein erwerben, in Deutschland nicht. Die dargestellten Forschungsbefunde sind daher nur bedingt übertragbar.

 

Abschließend kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt daher nicht eindeutig geklärt werden, ob Heranwachsende in Deutschland sexuelle Gewalt eher im Rahmen von Verabredungen, festen Partnerschaften oder durch Unbekannte erfahren.

 

90% des sexuell übergriffigen Verhaltens von Heranwachsenden geschieht im familiären Kontext oder im direkten sozialen Umfeld der Täter. Ungefähr 25% der jugendlichen Täter überreden die Opfer oder machen sie durch Geschenke gefügig. Meist wird die sexuelle Gewalt in Gruppen gleichaltriger Bekannter oder im schulischen Raum ausgeübt, aber auch Gewalt in Zweierbeziehungen ist ein großes Problem (Elsner, K. et al., Sexuell übergriffiges und aggressives Verhalten im Kindesalter: Einflüsse und individuelle Faktoren. Forens Psychiatr Psychol Kriminol. 2008; 2: 222-231 / Wieckowski E. et al. Deviant sexual behaviour in children and young adolescents: Frequency and patterns. Sexual Abuse: A Journal of Research and Treatment. 1998: 293-303).

 

10 bis 48% der Jugendlichen haben in Beziehungen körperliche Gewalt im Allgemeinen erfahren. Psychologische Gewalt haben 25 bis 50% der Heranwachsenden beiderlei Geschlechts erlebt (Collings WA. et al. Adolescent Romantic Relationship. Annu Rev Psychol. 2009; 60: 631-652).

 

Zum ersten Geschlechtsverkehr unter Androhung oder Einsatz von körperlicher Gewalt gezwungen wurden 3,5% der befragten Mädchen zwischen 13 und 18 Jahren (Leitenberg, H. & Salzmann, H., A statewide survey of age at first intercourse for adolescent females and age of their male partners: relations to other risk behaviours and statutory rape implications. Archives of sexual behaviour. 2000; 29: 203-215).

 

Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 9 – 12 befragten Ackard D. und Neumark-Staizner D. (Date violence and date rape among adolescents: associations with disordered eating behaviors and psychological health. Child Abuse Negl. 2002; 26: 455-473). Davon gaben 4,4% der Mädchen und 3,4% der Jungen an Opfer eines sexuellen Übergriffs durch einen Partner gewesen zu sein.

 

Prävention

 

Unabdingbar ist eine Kultur des Hinschauens und Thematisierens, um sexuelle Gewalt unter Heranwachsenden zu verhindern. Auch leichte Formen, wie z.B. verbale sexuelle Gewalt, dürfen nicht ignoriert werden, damit keine falschen Signale gesendet und der Nährboden für eine mögliche Eskalation geschaffen wird. Im angemessenen Umfang muss klar und deutlich, unaufgeregt und emphatisch agiert werden, so dass unmissverständlich vermittelt wird: Sexuelle Gewalt wird nicht akzeptiert. Notwendige Konsequenzen müssen in die Wege geleitet werden.

 

Zwischen jugendlichen Partnern gibt es im sexuellen Bereich häufig Kommunikationsprobleme. Zustimmung zu oder Ablehnung von Handlungen werden oft nicht deutlich zum Ausdruck gebracht, Signale vielfach falsch interpretiert (Krahé et al., 1999, siehe oben). Zunächst einvernehmliche Handlungen zwischen Jugendlichen enden manchmal damit, dass sexuelle Gewalt stattfindet. Um zu verhindern, dass dies aufgrund von Missverständnissen oder Uninformiertheit geschieht, muss Heranwachsenden das notwendige Wissen vermittelt werden. Sie sollten lernen Bedürfnisse - das heißt Gewünschtes und nicht Gewünschtes - in angemessener Weise sowie deutlich bzw. unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen.

 

Auch in Hinblick auf die Präventionsarbeit ist festzuhalten, dass positive frühe Eltern-Kind-Erfahrungen und ebensolche Erfahrungen in der Peer-Group in hohem Maße die Qualität der Beziehungen unter den Heranwachsenden beeinflussen (Collins, WA, More than Myth: The Developmental Significance of Romantic Relationships During Adolescence. Journal of Research on Adolescence. 2003; 13 (1): 1-24).

 

Vertiefendes zum Thema Prävention finden Sie auch unter Handlungswissen, Prävention.